HULDA ZWIRBELBRECHT

 

 

 

Der Raupe Hulda Zwirbelbrecht

 

war schon seit sieben Stunden schlecht.

 

Sie fraß enorm vom roten Kohl.

 

Zwar ist sie satt, mitnichten hohl,

 

Doch wurd’ sie gelb, drauf leuchtend blau,

 

dann violett – nun ist ihr flau.

 

 

 

Sie fühlt ein Blubbern und ein Pressen:

 

es gärt der Kohl zum Gas indessen.

 

Verwundert fühlt sie, daß sie schwillt

 

und mächtig auseinanderquillt.

 

Ihr Bauch wird prall wie ein Ballon,

 

schon steigt sie auf und fliegt davon.

 

 

 

Zurück zum Blatt schaut sie verdutzt

 

und strampelt heftig, was nichts nutzt.

 

So segelt Hulda durch die Lüfte

 

und hinterläßt grandiose Düfte.

 

Indem der Wind sie kullernd treibt

 

der Schwindel wächst, das Übel bleibt.

 

 

 

Fast wie in einem Karussell

 

dreht sich die Landschaft furchtbar schnell.

 

Gras, Wiese, Baum zerfließt zum Fleck:

 

schon ist er da – schwupp ist er weg.

 

Tief unter ihr blühn’ üppig Wiesen,

 

Das Pollenwirbeln läßt sie niesen.

 

 

 

Durch diese Winzlingsexplosion

 

saust Hulda schneller noch davon.

 

Über Kühe, Giebel, Bahnen –

 

fern kann sie die Stadt schon ahnen.

 

Verwirbelt landet Hulda bald

 

mitten im Antennenwald.

 

 

 

Auf dem Warenhause »Massen«

 

hat der Wind sie fallenlassen.

 

Froh verschnauft sie hier im Spalt

 

einer Lüftung — Brrr, wie kalt!

 

Kaum hat sie sich umgeguckt,

 

flutsch! wird sie hineingeschluckt.

 

 

 

Durch das Kaufhausrohrsystem

 

bläst es sie höchst unbequem.

 

Bis sie endlich aus dem Dunkel

 

wirbelt ins Konsumgefunkel.

 

Hier herrscht heftiges Gedränge.

 

Um sie säuseln süße Klänge.

 

 

 

Törtchen, Zirkel, Bücher, Ski –

 

so etwas sah Hulda nie.

 

Ein schwacher Luftzug trägt sie sacht

 

hinunter in die bunte Pracht

 

zur Abteilung für Genüsse:

 

Obst, Gemüse, Schokoküsse.

 

 

 

Und was sieht sie voller Graus?

 

Rotkohl, Grünkohl – glatt und kraus!

 

Ach was wär’ das Schlemmen toll

 

hätte sie den Bauch nicht voll!

 

Hulda, nein! (Das war ein Pups!)

 

Kräftig wirkt der wie ein Schubs

 

 

 

 

und sie plumpst – du meine Güte!

 

‘nem Verkäufer in die Tüte.

 

»Igittigitt!« kreischt dieser schrill,

 

fingert fix sie aus dem Dill,

 

wift sie fort in hohem Bogen.

 

Dreißig Meter! (Ungelogen!)

 

 

 

Zwischen Seidenband und Knöpfen,

 

Kordeln, Blüten, falschen Zöpfen

 

landet Hulda Zwirbelbrecht,

 

der kotz-speiübel-furchtbar-schlecht.

 

Der schmucke Hut gehört ‘ner Dame,

 

Elvira Hurtig ist ihr Name.

 

 

 

Die Dame probt vor einem Spiegel

 

‘nen Lippenstift, rot wie ein Ziegel.

 

Plötzlich erblicken sich nun Beide.

 

Elvira wird gleich weiß wie Kreide.

 

Auch Hulda glotzt, erstarrt vor Schreck,

 

auf sich, den fetten lila Fleck.

 

 

 

Vom Haar wird jetzt der Hut gerissen

 

und kreiselnd durch die Luft geschmissen.

 

Vorbei an Mündern, Augen, Nasen,

 

betäubt von eig’nen Rotkohlgasen,

 

saust, wie auf einer Untertasse,

 

die Hulda bis zur Spielzeugkasse.

 

 

 

Beim unerwartet harten Stop

 

macht’s plötzlich ganz vernehmlich »Plopp«.

 

Und aus ihr schwallt, na – was denn wohl?

 

der ganze unverdaute Kohl!

 

 

 

Senkrecht schießt Hulda hoch zur Decke.

 

Dort hängt, grellbunt, auf halber Strecke

 

ein Sportflugzeug en miniature

 

(Für hundertfünfzehn Euro nur).

 

In dieses Spielflugzeugmodell

 

verkriecht sich Hulda nun ganz schnell.

 

 

 

Da blickt ihr jemand schon entgegen:

 

ein Artgenosse – welch ein Segen!

 

»Ich bin die Hulda Zwirbelbrecht.«

 

»Ich heiß’ bloß Igor.« Ihr ist’s recht.

 

Der Igor ist ein Wurm der Stadt,

 

den Trubel hat er gründlich satt.

 

 

 

Drum lauscht er glücklich Huldas Worten

 

von Blättern ganz verschied’ner Sorten,

 

von Kohl, Salat und grünen Wiesen,

 

von Bäumen, diesen Raschelriesen.

 

Ach wär’ das schön jetzt abzuheben!

 

Was ist das plötzlich für ein Beben?

 

 

 

Vorm Cockpit klebt nun, Beide staunen,

 

ein dicker, krummer Menschendaumen.

 

Der Mann von Spielzeugkasse zwo

 

greift nach dem Flugzeug ziemlich roh.

 

Ein Vater hat für seine Lütte

 

das Ding gekauft auf ihre Bitte.

 

 

 

Schon liegt es bei der Packmamsell

 

gleich straff verschürt als Traggestell.

 

Weil sie Geburtstag hat, die Lise,

 

geht sie mit Vatern auf die Wiese

 

die hinter ihrem Wohnblock liegt,

 

um zu erproben, ob es fliegt.

 

 

 

Die Fernbedienung surrt ganz leise,

 

das Flugzeug fliegt nach Lises Weise.

 

Es blinkt, kurvt, schnörkelt vor der Sonne,

 

die Lise hüpft vor lauter Wonne.

 

Und wonniglich schnuppern auch Zwei

 

die frische Luft: »Juchheißa Hei!«.

 

 

 

Der Fahrtwind öffnet eine Klappe,

 

just unter ihnen trabt ein Rappe.

 

Schawupps, schon purzeln alle Beide

 

kopfüber in die lila Heide,

 

ach – wunderbarerweise glatt

 

schräg neben Huldas Heimatblatt.

 

 

 

Zwischen Gräsern, Moos und Bickbeern

 

flitzt ein Raunen und ein Wispern:

 

»Oh seht, die Hulda ist zurück!

 

Grün und gesund, was für ein Glück!«

 

Es trippeln Freunde, kriechen, flattern,

 

um ihren Anblick zu ergattern,

 

Auf Hulda und auf Freund Igor.

 

Nie sah man froher sie zuvor!

 

Texte

Kurzgeschichten in Anthologien:

Verzählt | 2006,"Der Tod in der Teekiste", Anthologie von 30 skurrilen Geschichten, Schreiblust-Verlag Dortmund

ISBN 3-9808278-8-7

 

Zuckersüß | 2008, "Böser die Glocken nie klingen", 15 Berliner Weihnachtskrimis, edition karo, Berlin

ISBN 978-3-94961-03-2

 

Sonntags | 2009, "Gegenwartsliteratur II. in der Schlossgärtnerei Wartholz", Kral-Verlag, Berndorf

ISBN 978-3-902447-57-9

 

Weiß wie Alabastergips | 2009, "Schneeflöckchen, Mordsglöckchen", Berliner Weihnachtskrimis | KaroKrimiPreis 2009, Die besten Dreizehn, 
edition karo, Berlin

ISBN 978-3-937881-09-6

 

Reizstoff | 2010, "Bitte lächeln!", 28 Humorgeschichten, Schreiblust-Verlag

ISBN 978-3-9812228-4-5

 

Hauptbahnhofblues | 2015, "Advent, Advent, die Alster brennt", Hamburger Weihnachtskrimis | KaroKrimiPreis 2015, Die besten Dreizehn, 

edition karo, Berlin

ISBN 978-3-937881-16-4

Reiseerzählung:

Auf den Spuren meiner Theatertante durch das Banat | Meine abenteuerliche Reise durch Rumänien 2020 

edition karo, Berlin